Beurteil uns nie nach den besten Stunden
Elke Nußbaum ist zu einer weiteren Lesung des Literaturkreises in die KÖB St. Maria Rosenkranzkönigin gekommen. Und sie hatte Heiteres und Nachdenkliches im Gepäck.
Kurt Tucholsky war Journalist, Schriftsteller, Publizist, Satiriker, Humorist, Liedtexter, Kabarett- und Romanautor, Lyriker, Kritiker von Literatur, Film und Musik, linker Demokrat, Sozialist, Pazifist, Anti-Militarist, Anti-Patriot, Anti-Nationalsozialist, Liebhaber, Mensch, mehrfacher Ehemann und letztendlich gescheiterter Patriot. Er bleibt umstritten und vielgelesen. Er war vieles, aber nicht vom Fluch der Mittelmäßigkeit belastet.
Es lastet auf dieser Zeit
Tucholsky, Werke 1907-1935. An das Publikum, in: Die Weltbühne, 07.07.1931, Nr. 27 (Theobald Tiger)
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Elke Nußbaum hatte viele Facetten von Kurt Tucholsky mitgebracht. Er selbst gab sich viele Namen und sie waren irgendwie alle gemeinsam bei uns. Mit einem Bildervortrag, der die wichtigsten Stationen Tucholkskys abdeckte, gab sie einen Überblick über sein Leben: 1890 geborener Jude, Abitur, Studium, Kriegsdienst, Übertritt zum Prostentantentum, viele Ehen und Affären – und viele Pseudonyme, die irgendwie symptomatisch für seinen Seelenzustand sind.
Beurteil uns nie nach den besten Stunden.
Kurt Tucholsky, Der andre Mann, aus: Zwischen gestern und morgen
Und hast du einen Kerl gefunden,
mit dem man einigermaßen auskommen kann:
dann bleib bei dem eigenen Mann!
Tucholsky war Linker, aber auch Kritiker der linken Bewegung der 1920er, Wechsel in die Wirtschaft, Wiederbeginn als Schriftsteller, Deutscher, der aber doch dann im Ausland lebt – und stirbt; Frankreich und Schweden sind am Ende die Lebensorte eines Flüchtenden.
Ein kleiner dicker Berliner wollte mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten.
Erich Kästner über Kurt Tucholsky
Er schrieb unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel, vor allem in der „Weltbühne“, einer Wochenzeitschrift mit geringer Auflage für Politik, Kunst und Wirtschaft, die aber große Wirkung entfaltete. Und er schien eine diebische Freude an den Verwandlungen seiner fast schizophrenen Charaktere zu haben, insbesondere dann, wenn diese unter unterschiedliche Kritik der Leser kamen. Und er ist ein Kind seiner Zeit, den eher frivolen 20er Jahren, die aber auch künstlerisch neue Grenzen austesten.
Ein Mord wird sichtbar – als Schattenspiel an einer grauen Wand. Und zeigt wieder, wie das Geahnte schrecklicher ist, als alles Gezeigte.
Tucholsky über „Das Cabinet des Dr. Caligari“, ein wegweisendes Werk des deutschen expressionistischen Films.

„Die Weltbühne“ war ein Forum für ihn und die anderen Autoren, unter ihnen auch Carl von Ossietzky, sich kritisch mit der Zeit und den politischen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Letzterem übergibt Tucholsky auch schnell nach dem Tod des Herausgebers Jacobsohn die Leitung, da ihm die Rolle als „Oberschriftleitungsherausgeber“ nicht behagte. Hierarchie, Vorschriften, Bindung und auch Religion scheinen nicht sein Ding. Frau Nußbaum zeigt dies an Beispielen seines Werks auf – es beschreibt mal Liebe (eher melancholisch-intellektuell), mal Pazifismus (idealitisch aber enttäuscht) und mal Kommunikation (humorvoll und letztendlich entlarvend).
Nachdem sein Freund und Schriftstellerkollege von Ossietzky unter Ausschluss der Öffentlichkeit 1931 wegen Geheimnisverrats zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wird, zeigt Tucholsky Schuldgefühle, weil er aus Frankreich nicht angereist ist und seine Verhaftung riskiert hätte. Das Verfahren, gegen dessen Urteil eine Beschwerde aus verfahrenstechnischen Gründen zuletzt 1980 abgewiesen wird, war einer der spektakulärsten Prozesse gegen militärkritische Jornalisten in der Weimarer Republik.
Aber im Falle Oss bin ich einmal nicht gekommen, ich habe damals versagt, es war ein Gemisch aus Faulheit, Feigheit, Ekel, Verachtung – und ich hätte doch kommen sollen. Daß es gar nichts geholfen hätte, daß wir beide sicherlich verurteilt worden wären, daß ich vielleicht diesen Tieren in die Klauen gefallen wäre, das weiß ich alles – aber es bleibt eine Spur Schuldbewußtsein.
Brief an Hedwig Müller vom 19. Dezember 1935, in: Kurt Tucholsky: Briefe. Auswahl 1913–1935. Berlin 1983, S. 325 ff.
Nach seinem Tod – einige vermuten Selbtsmord, andere einen Unfall, weitere ein Komplott – wird er unter einer schwedischen Eiche nach Schloss Gripsholm in Schweden beigesetzt. Die Grabplatte mit der Inschrift „Alles Vergängliche Ist Nur Ein Gleichnis“ aus Goethes Faust II wurde erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf das Grab gelegt. Tucholsky selbst hätte wohl eher folgenden Grabspruch für sich vorgeschlagen:
Hier ruht ein goldenenes Herz und eine eiserne Schnauze. Gute Nacht –!
Requiem, 1923, Kurt Tucholsky
Elke Nußbaum – wie immer ausdrucksstark und fesselnd – kehrt Anfang März zur nächsten Lesung in den Literaturkreis zurück. Wie auch diesmal wird es wieder literarisch-politisch. Es geht um „Erinnerung an Leben und Werk von Günter Grass (1927-2015)“. Und ob es uns gefällt oder nicht, es wird wohl auch wieder promisk.
Empfohlene Literatur zu Tucholsky
- Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte. Bilder von Kurt Szafranski. Axel Juncker Verlag, Berlin 1912. Aktuelle Ausgabe: Anaconda, Köln 2010, ISBN 978-3-86647-498-7.
- Panter, Tiger & Co.: Eine neue Auswahl aus seinen Schriften und Gedichten, ISBN 3-499-10131-9.
- Deutschland, Deutschland über alles. Ein Bilderbuch von Kurt Tucholsky und vielen Fotografen. Montiert von John Heartfield. Universum Bücherei für alle, Berlin 1929. Aktuelle Ausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996, ISBN 3-499-14611-8.
- Schloß Gripsholm, Rowohlt Verlag, Berlin 1931. Aktuelle Ausgabe: Greifenverlag, Rudolstadt/Berlin 2009, ISBN 978-3-86939-239-4.
- Michael Hepp: Kurt Tucholsky – Biographische Annäherungen; Rowohlt Verlag, Reinbek 1993; ISBN: 3-499-50612-2
Mehr zum Thema aus den Mediatheken
Das „Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum“
Einen Blick zum Schloss Rheinsberg in Brandenburg, dem Handlungsort aus Kurt Tucholskys „Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte“, und das dort befindliche „Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum“ wirft das ZDF-aspekte-Team.
Die wilden Zwanziger – Berlin und Tucholsky
Das Berlin der Zwanziger Jahre ist groß, jung und anonym. So grau die politische Wirklichkeit der Weimarer Republik ist, so glanzvoll sind ihre Kunst, Kultur und Wissenschaft. In diesen Jahren zählt u.a. Kurt Tucholsky zu den bedeutendsten Publizisten.
52 Min., Deutschland 2014. Spielszenen, kombiniert mit Originalaufnahmen aus der Zeit.
Wie ich heute Abend erfahren habe, war es ein Jan, der den Bericht über Frau Nußbaums Tucholsky-Lesung verfasst hat:
Eine großartige Fortsetzung des großartigen Vortrags!
Alle Facetten des äußerst facettenreichen Tucholsky noch einmal gut strukturiert und gebündelt dargestellt, dazu Literaturempfehlungen und im Anhang zwei Filme aus der Mediathek, wobei der zweite „Die wilden Zwanziger – Berlin und Tucholsky“ besonders sehenswert ist.
Herzlichen Dank für deine Mühe, Jan!
Ute S.
Tolle Zusammenfassung..
Sabine K.