Lesung zu Günter Grass

Elke Nußbaum ist zur zweiten Lesung des Literaturkreises 2020 in die Bibliothek gekommen. Und diesmal war es kompliziert.

Kompliziert war es, das Leben von Günter Grass. Und Elke Nußbaum machte es 24 Literaturbegeisterten nicht einfach. Im Gegenteil: So voller Sprünge, wie das Leben des Literaturnobelpreisträgers war, so sprunghaft ging es auch durch den Vortrag in den Erinnerungen an sein Leben und Werk.

Die Brüche vieler deutscher Biografien wurden in Günter Grass‘ Leben besonders deutlich. Ein Leben, das mit 87 Jahren über den zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau, die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands bis ins neue Jahrtausend reichte.

Familie, Kirche und Herkunft

Als Sohn einer Katholikin und eines Protestanten, einer Kaschubin und eines Deutschen, wuchs er in Danzig in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Gegen den Wunsch des Vaters wollte er Künstler werden, was das Verhältnis zu ihm zeitlebens belastete.

Wenn die Milch gerinnt und säuert,
strafen unverrückbar Blicke,
weil sein Blick die Milch gesäuert.

Auszug: Günter Grass: „Der Vater“, „Lyrische Beute. 140 Gedichte aus fünfzig Jahren“
Vertriebener und dadurch Getriebener

Nach dem Krieg kurz in Düsseldorf und dann in Berlin, am Ende dann nahe Lübeck lebend, war er Zeit seines Lebens stets eines: aus Danzig Vertriebener und dadurch getrieben, zur Versöhnung nach dem Krieg beizutragen. Er wurde 1993 Ehrenbürger der Stadt Danzig und sein Werk thematisiert immer wieder seine Geburtsstadt. Dabei enttarnt und entmythologisiert er immer wieder die Nazi-Ideologie während der NS-Zeit und danach. Seinen Heimatverlust verarbeitet er zeitlebens in seinem Werk.

Wir treffen uns, schlage ich vor, wo der Strießbach in die Radaune fließt und die Radaune in die Mottlau fließt und die Mottlau in die Weichsel fließt und alle Wasser zusammen ins baltische Meer münden.

Günter Grass, „Der Butt“
Willy Brandts Wahlkämpfer, nachdem er doch Waffen-SS-Angehöriger war

Im Krieg hatte er sich als 15-Jähriger freiweillig bei der Wehrmacht gemeldet. Nach Einsätzen als Luftwaffenhelfer und im Reichsarbeitsdienst, wobei er eigentlich zur U-Boot-Flotte wollte, wurde er Ende 1944 zur Waffen-SS einberufen. Eine Tatsache, die er bis 2006 öffentlich verschwieg und die dann zu kritischer Auseinandersetzung vor allem mit dem Leben, aber weniger mit dem Werk Grass‘ führte. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb war Grass immer ein politisch engagierter Mensch, der sich in drei Wahlkämpfen für die SPD und Willy Brandt einsetzte, ohne währenddessen jedoch Mitglied zu sein. Später trat er in die „Es-Pe-De“, so eines seiner Plakate, ein und wieder aus, so wie er auch aus der Kirche austrat: oft als Zeichen für oder gegen eine Sache, mal gegen den Asylkompromiss, die Atomkraft, den NATO-Doppelbeschluss oder für die Abschaffung des Paragrafen 218 und der 5%-Klausel. Auch sonst hielt er sich nicht raus: für Schwulen- und Lesbenrechte, gegen den ADAC, für ein Bleiberecht der Sinti und Roma.

Entsetzt sehen wir, dass der Kapitalismus, seitdem sein Bruder, der Sozialismus, für tot erklärt wurde, vom Größenwahn bewegt ist und sich ungehemmt auszutoben begonnen hat.

Nobelvorlesung 1999
Schriftsteller, Bildhauer, Grafiker und Nobelpreisträger

Günter Grass ist vor allem bekannt durch seine erzählenden Werke, die oft surreal, fast grotesk überzeichnete Figuren enthalten. Seine Lyrik ist realistisch, oft ironisch. Dazu gesellen sich Grafiken, Skulpturen und Plastiken, die Themen aus seinem literarischen Werk wieder aufgreifen.

Ich bin Schriftsteller, Bildhauer, Grafiker, und dann habe ich noch einen Beruf: Nobelpreisträger – daran werde ich immer mal erinnert.

Günter Grass

Früher Weltruhm und so vor allem Unabhängig

Sein Erstlingswerk „Die Blechtrommel“ führte ihn gleich zu Weltruhm und machte ihn finanziell unabhängig. So konnte er sich Meinung leisten und hielt sich selten raus. Er blieb zeitlebens vor allem ein Freigeist, der sich weltweit mal mehr oder weniger skandalös einmischte. Besonders prominent war seine Kritik an der Atom- und Besatzungspolitik Israels im Gedicht „Was gesagt werden muss“, die ihn indirekt zur Persona non grata in Israel machte, offiziell wegen seiner Nazi-Vergangenheit.

Das Schreiben ist eine schreckliche Tortur – schlimmer nur sind Dichterlesungen vor Frauenkränzchen.

Günter Grass, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Oktober 1989
Mehr oder weniger skurille Erkenntnisse

Der erste Satz von „Der Butt“ wurde 2007 zum schönsten ersten Satz der deutschsprachigen Literatur gewählt.

Ilsebill salzte nach.

Grass, „Der Butt“, erster Satz

Günter Grass schrieb seit 1953 auf einer Reiseschreibmaschine, die schon seit den 60ern nicht mehr produziert wurde. Als das Gerät nach 40 Jahren nicht mehr richtig funktionierte, schickte man ihm von Olivetti ein elektronisches Modell. Grass vermisste das Klappern und besorgte sich ein funktionsfähiges Exemplar seiner Olivetti Lettera 22.

„Meine alte Olivetti ist Zeuge wie fleißig ich lüge und von Fassung zu Fassung der Wahrheit um einen Tippfehler näher bin.“

Günter Grass, „Fundsachen für Nichtleser“

Mehr zum Thema aus den Mediatheken

Autoren erzählen – Günter Grass

In Ausschnitten aus Fernsehsendungen von 1962 bis 2013 erzählt Günter Grass, wie er als Kind in Danzig zu lesen begann und wie er die Zeit des Nationalsozialismus erlebt hat. Im Zusammenhang mit seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg reflektiert er seinen Entschluss, Schriftsteller zu werden.

Copyright: SWR

Mehr im Netz

Lebendiges Museum Online – Günter Grass

Deutschlandfunk – Ein Nachruf

Nobelprize.org – Auszug aus die Blechtrommel

Galerie vom 5.3.2020

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3 Gedanken zu „Lesung zu Günter Grass

  • 8. März 2020 um 5:48
    Permalink

    Leider konnte ich an der Lesung zu Günter Grass nicht teilnehmen.
    Deshalb hat es mich sehr gefreut, hier eine Zusammenfassung und
    weitere Links zu finden. Dem Schreiber sei Dank!

    Seit Mitte der 60er Jahre las ich Bücher von GG und alle haben mich fasziniert.
    Ein „Geschenk-Buch“ habe ich seit den 80er Jahren allerdings noch (fast) un-
    gelesen im Regal stehen: Der Butt. Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, mir dieses Buch
    noch einmal vorzunehmen…
    Fine

  • 21. Mai 2021 um 12:37
    Permalink

    Hallo, liebe Literaturfreund*innen,

    hatte in Coronazeiten viel Zeit zu lesen.
    Das (Geschenk-)Buch „Der Butt“, das einen vieljährigen Winterschlaf in meinem Bücherregal fristete, hatte es noch einmal auf meinen Nachttisch geschafft.
    Leider muss ich sagen, dass ich weiterhin keinen Zugang zu dem Text finde.
    Die Bücher von Hans-Josef Ortheil habe ich lieben gelernt.
    Den Butt würde ich jetzt (nach 40 Jahren) verschenken wollen. Will ihn jemand?
    Gruß
    Josefine

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